Liebe Freundinnen und Freunde der IBA’27,
wir stehen vor einem epochalen Wandel in der Bauwirtschaft.
Die Medien haben uns auf das massive Problem der Plastikverschmutzung in den Ozeanen aufmerksam gemacht; ebenso rückt die Bedeutung von regionaler, ökologischer Lebensmittelproduktion in unseren Fokus. Aber ist uns bewusst, welche Materialien in Gebäuden uns tagtäglich umgeben, wie diese hergestellt und entsorgt werden?
Kreislaufschließung im Bausektor, das ist das aktuell diskutierte und unumstrittene Ziel, das durch den Beschluss des ambitionierten »Green Deal« der EU befördert wird: Bis 2050 sollen die Netto-Emissionen von Treibhausgasen auf null reduziert werden.
Deutschland ist bereits gebaut – und ist mit seinen knapp 22 Millionen Häusern ein immenses menschengemachtes Rohstofflager. Ganz zu schweigen von der grauen Energie, die in diesen Bestandsbauten gebunden ist: 20 bis 50 Prozent der Kohlendioxid-Emissionen im Lebenszyklus eines Gebäudes entfallen allein auf Rohstoffgewinnung, Herstellung, Transport, Bau und Abriss. Wollen wir ernst machen mit dem Klimaschutz, müssen wir auf dieses Lager zurückgreifen. Damit verbinden sich komplexe Fragen, angefangen von handfesten Hürden wie Gesetze und Regularien, Fragen der Wirtschaftlichkeit und realistische Energie- und Materialbilanzen, aber auch fehlendes Bewusstsein für den Umgang mit dem Bestand.
Aktuell zeigt sich dieses Spannungsfeld gleich bei mehreren IBA’27-Projekten wie der »Neuen Mitte Leonhardsvorstadt« in Stuttgart. Es handelt sich dabei um ein in die Jahre gekommenes Parkhaus, das bereits dem Abbruch geweiht war. Nun zeigen erste Abklärungen, dass die Gebäudestruktur auch erhalten und umgenutzt werden könnte – weg von der Monofunktion hin zu einer bunten Mischung aus Wohnraum, Arbeiten und Kultur. Im größeren Maßstab sucht die Stadt Sindelfingen nach Strategien für den Umgang für ihr freiwerdendes Klinikareal. Wie kann sich ein Krankhaus in ein urbanes Viertel verwandeln? Wie lässt sich eine solche gebaute Großstruktur an veränderte Bedürfnisse und Nutzungen anpassen?
Die IBA’27 hat sich in den letzten Monaten detailliert mit den Möglichkeiten und aktuellen Hemmnissen der Kreislaufschließung im Bausektor und – damit verbunden – der Nutzung des Gebäudebestands auseinandergesetzt. Zuallererst gilt es, Hindernisse zu identifizieren und Lösungen für jedes einzelne zu finden. Aus dieser Auseinandersetzung ist ein Konzept entstanden, um bei der Entwicklung ausgewählter IBA’27-Projekte Stoffkreisläufe exemplarisch zu schließen. Materialien von Bestandsgebäuden, die tatsächlich abgerissen werden müssen, sollen digital erfasst, analysiert und nach dem Abbruch zwischengelagert werden, um anschließend bei Sanierung oder Neubau eines anderen IBA’27-Projekts wiederverwendet zu werden. Ein praktisches Experiment, aus dem eine Blaupause für künftige Bestands- und Neubauvorhaben in der Region und darüber hinaus werden könnte.
Experimentierräume für zukunftsweisende und nachhaltige Veränderungen zu schaffen, ist essenzielle Aufgabe der IBA’27. Dazu gehört auch, auf aktuelle Fragen und Herausforderungen aufmerksam zu machen und neue Lösungswege zu suchen. Mit Mut und Fantasie, Energie und Zusammenhalt lassen sich die Weichen für die Transformation des Bauens jetzt in die richtige Richtung stellen.
Stefanie Kerlein
Projektleiterin IBA’27